Papst Franziskus hat neue Gesprächspartner

24/11/2014
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Zum ersten Mal hat ein Papst die Verantwortlichen von Sozialen Bewegungen aus aller Welt zu einem Treffen im Vatikan eingeladen. Vom 27. bis 29. Oktober trafen sich ca. zweihundert Männer und Frauen aus allen Erdteilen, die engagiert sind in den Bewegungen Landloser Bauern, Ausgeschlossener Arbeitender, VertreterInnen selbstgeführter Betriebe, von MigrantInnen und BewohnerInnen von Elendsvierteln. So waren unter anderen die brasilianische Landlosenbewegung MST, der zambische Obdachlosen- und Armen-Verband, eine kurdische Jugendorganisation aus Syrien sowie eine Vereinigung koreanischer Bäuerinnen anwesend. Organisiert vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden unter der Leitung von Kardinal Turkson und in Absprache mit den Repräsentanten der verschiedenen Bewegungen hatten sie sich der Frage gestellt, wie sich die Bewegungen den Problemen von Krieg, Vertreibung, Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit stellen sollten. Diskutiert wurden die Ursachen der weltweit wachsenden sozialen Ungleichheit und der Mechanismen von Exklusion. Die drei thematischen Schwerpunkte des Treffens waren: "tierra - techo - trabajo": Land (Bauern, Landwirtschaft, Nahrungsmittelsouveränität und Umwelt), Wohnraum (informelle Ansiedlungen, Mangel an Wohnraum und arme urbane Peripherien) und Arbeit (informelle Arbeit, Kinder- und Jugendarbeit).
 
 
Papst Franziskus hat am Dienstag, den 28. Oktober, eine Ansprache gehalten, die von manchen Presseorganen als "Spontane Enzyklika zu Armut und Umwelt" gewertet wurde. Wir veröffentlichen diesen Text in deutscher Übersetzung. Die Ansprache wurde in spanischer Sprache gehalten.
Der Text findet sich auf der website des Vatikan:
http://w2.vatican.va/content/francesco/es/speeches/2014/october/document...
 
- Norbert Arntz, Institut für Theologie und Politik, Münster
 
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ANSPRACHE VON PAPSTFRANZISKUS
 
vor den Teilnehmern amWelttreffen derSozialen Bewegungen
in der
AltenSynodenaula, Rom, Dienstag28. Oktober 2014
 
 
Noch einmal "Guten Tag". Ich bin glücklich,bei euch zu sein. Ich sage euchauch im Vertrauen, esist das erste Mal, dass ich hier heruntergekommen bin, hier war ich noch nie.Wie ich schon sagte, es freut mich sehr und ich sage euch allenein herzliches Willkommen.
 
Herzlich danke ich euch dafür, dass Ihr die Einladung angenommen habt, die vielen massivensozialenProbleme derWelt von heutezu diskutieren, ihr, die am eigenen LeibUngleichheit und Ausgrenzung erfahrt. KardinalTurksondanke ich für seinenfreundlichen Empfang.Danke, Eminenz für Ihre Arbeit undIhre Worte.
 
Dieses Treffen derSozialen Bewegungenist ein Zeichen, einwichtiges Zeichen: Ihr seid gekommen, umvor Gott, vor der Kirche, vor den Völkern eine Realität auszusprechen, die oftverschwiegen wird. Die Armen erleiden das Unrecht nicht nur, sondern bekämpfen es auch!
 
 
 
Ihr gebt Euch nicht zufriedenmitillusorischenVersprechungen, AusredenoderAlibis. Ihr wartet auch nichtuntätigdarauf,dassNichtregierungsorganisationen, Sozialpläne bzw. Hilfsmaßnahmen Euch beistehen, dienie ankommen,oder wennsie ankommen,häufig nur dazu dienen, entweder zu narkotisieren oder zu domestizieren.Das sind gefährliche Mittel.Ihr glaubt, dassdie Armen nicht länger warten, sondern die Sache selbst in die Hand nehmen wollen, sich organisieren, studieren, arbeiten, reklamieren undvor allem diese besondere Art von Solidarität praktizieren, die es unter den Leidenden, unter den Armen gibt und die unsere Zivilisationvergessen zu haben scheint, oder zumindestallzu gerne vergessen machen möchte.
 
Solidarität ist einWort, dasnicht immergut ankommt, ja, ich würde sagen, dass wir es manchmal sogar zu einem unanständigenWortgemacht haben, das man nicht sagen darf. Aber esist ein Wort, das viel mehr meint als einigesporadischegroßherzige Gesten.Es meint, dass mandenkt und handeltim Sinnevon Gemeinschaft, dass das Lebenaller wichtiger ist als die Güteranhäufung einiger weniger. [Solidarität] meint auch, die strukturellen UrsachenvonArmut und Ungleichheit zu bekämpfen,wenn Arbeitsplätze fehlen,Landoder Wohnraum nicht zur Verfügung stehen, wenn Sozial- und Arbeitsrechte vorenthalten werden. [Solidarität meint], sich zu konfrontierenmit den zerstörerischen Auswirkungendes Imperiums desGeldes: Zwangsumsiedlungen,leidvolleMigration, Menschenhandel, Drogen, Krieg, Gewalt undall jeneRealitäten, unter denen viele von euchleiden und die zu ändern wir alle aufgerufen sind.Solidarität,in ihrer tiefstenBedeutung, meint eine bestimmte Art,Geschichte zu gestalten. Und das ist es, was die Sozialen Bewegungen praktizieren.
 
 
 
Unser Zusammentreffen hat nichts zu tun mit Ideologie.Ihr arbeitet nichtan Gedanken, ihr arbeitet an jenen Wirklichkeiten, die ich bereits erwähnt habe, und an noch vielen anderen mehr, von denen ihr mir erzählt habt…...Ihr steht mit euren Füßenauf dem Erdbodenund berührt mit euren HändenFleisch und Blut. Ihr riecht nachElendsviertel, nach kleinen Leuten, nach Einsatz!Wirwollen, dass eureStimme gehört werde. Inder Regel hört man wenigauf sie.Vielleicht, weilsie ärgert,vielleicht weilihr Protestschreiunbequem ist,vielleicht, weil manAngst vor der Veränderung hat, die ihrfordert. Aber ohne eure Mitwirkung, ohnetatsächlich an die Peripherien zu gehen, bewegen sich alle guten VorschlägeundProjekte, von denen wir oftauf internationalen Konferenzen hören,nur imReich der Ideen, bleibt es nur mein Projekt.
 
Man kannden Skandalder Armutnichtbekämpfen, indem man Besänftigungsstrategien entwickelt, die nur beruhigen und die Armen zu domestizierten, harmlosenKreaturenmachen sollen. Wietraurig ist es zu sehen, wennmitangeblichaltruistischenTaten die anderenzur Passivitätverleitet werden, oder schlimmer, wenn sich dahinter Geschäfts- oder Privatinteressen verbergen. Solche Menschen würde JesusHeuchler nennen.Wie schön ist es dagegen, wennwir sehen, wie ganze Völker, vor allem ihre ärmsten Angehörigenund die Jugendlichen sich in Bewegung setzen. Ja, daspürt man den Windder Verheißung, der die Hoffnung auf eine bessere Welt wieder aufleben lässt.Dieser Windsoll zueinem Sturmder Hoffnung werden.Das ist mein Wunsch.
 
 
 
Unser Treffen heute entspricht einemganz bestimmtenVerlangen nach etwas, dasjeder Vater und jede Mutterfür ihre Kinder wollen; ein Verlangen nach etwas, das für alle zur Verfügung stehen müsste, das wir aberleiderheutefürdie allermeisten in immer weitere Ferne rücken sehen: Landbesitz, ein Dach über dem Kopfund Arbeit („tierra, techo y trabajo“).Es ist befremdlich:Wenn ich als Papst davon spreche,heißt das für einige, dassder PapsteinKommunist ist.
 
Man begreift nicht, dass dieLiebe zu den Armendas Herzstückdes Evangeliums ist.Landbesitz, ein Dach über dem Kopfund Arbeit - das sind heilige Rechte, für die ihr euch einsetzt. Diese Rechte einzuklagen, ist keine Regelwidrigkeit, sondern gehört zur Soziallehre der Kirche. Jedes einzelne dieser Rechte will ich kurz erläutern, denn ihr habt sie als Leitwortefür dieses Treffenbestimmt.
 
 
 
Landbesitz.Am Anfangder Schöpfungschuf Gott den Menschen als Hüter für sein Werk und beauftragte ihn, es zu bebauen und zu bewahren.Ich sehehierDutzendevon Bäuerinnen und Bauern. Ich möchte euch beglückwünschen, weil ihr gemeinschaftlich das Land bebaut und bewahrt. Große Sorge macht mir die Vertreibung so vieler Schwestern und Brüder, die entwurzelt werden, und zwar nicht weil Krieg oder Naturkatastrophen die Ursachen sind. Vielmehr sindLandraub, Entwaldung, Enteignung und Privatisierung von Wasser sowiegiftigePestizideeinige derÜbel, dieden Menschenaus seiner Heimatvertreiben. Diese Trennung bedeutet nicht nur ein körperliches, sondern ein existentiellesund spirituelles Leiden, weil diesem Vorgang ein Verhältnis zum Land zugrunde liegt, das die ländliche Gemeinschaft und ihren spezifischen Lebensstil offenkundig zerrüttet und sogar mit Auslöschung bedroht.
 
 
 
Die andere Dimensiondieses bereits globalen Prozesses ist der Hunger.WennFinanzspekulationenden Preisvon Lebensmitteln bestimmen, weil sie Lebensmittel alsWaren behandeln, hungern Millionen von Menschenund sterben daran.Außerdem werden Tonnen von Lebensmittelnweggeworfen.Das ist wirklich ein Skandal. Hungerist ein Verbrechen. Ernährung ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Ich weiß, dass einige von eucheine Landreform fordern, um wenigstens das ein oder andere dieser Probleme zu lösen. Lasst michEuch sagen, dassin bestimmten Ländern - undhierzitiere ichdasKompendium der Soziallehreder Kirche- "die Landreform nicht nur zu einer politischen Notwendigkeit, sondern zu einer moralischen Verpflichtung [wird]" (Kompendium der Soziallehre der Kirche, 300).
 
Das sage also nicht nur ich allein, das stehtimKompendium der Soziallehreder Kirche. Setzt Euch also bitte weiterhin fürdie Würde derländlichenFamilie ein, für das Wasser,für das Leben und dafür, dass allen die Früchte der Erdezugute kommen.
 
Zweitensdas Dach über dem Kopf (techo). Ich habe es bereits gesagt und wiederhole es noch einmal: fürjede Familieeine eigene Wohnung.Wir dürfen nie aus dem Blick verlieren, dass Jesus ineinem Stall geboren wurde, weil in der Herberge kein Platz war, dass seine Familieihr Heimverlassen und nach Ägypten fliehen musste, weil sie von Herodesverfolgt wurde.Heutegibt es so vieleobdachlose Familien, entweder haben sienie eine Wohnung gehabt, oder sie haben sie aus verschiedenen Gründenverloren. Familiegeht nicht ohne Wohnung. Aber damit das Dach über dem Kopf ein Heim werden kann, braucht es auch eine Gemeinschaftsdimension, nämlichdie Nachbarschaft... und es isteben die Nachbarschaft, von der aus man beginnt, an der großen Familieder Menschheit mitzubauen,vom unmittelbaren Zusammenleben mit den Nachbarn ausgehend.Heute leben wirin riesigenStädten, die sich modern,stolzund sogararrogant geben. In Städten, die einer wohlhabenden Minderheit Wohlstand und zahllose Vergnügungen bieten...Aber tausenden von Nachbarn und Geschwistern, sogar Kindern, verweigert man das Dach über dem Kopf. Man bezeichnet sieelegant als "Menschen auf der Straße". Es ist schon komisch, wie Beschönigung und Bagatellisierung durch Euphemismen in der Welt derUngerechtigkeit überhand nehmen. Man redet nicht in eindeutigen klaren Worten, sondern sucht nach beschönigenden Umschreibungen.Ein Mensch, einabgesonderter Mensch, ein außen vor gehaltener Mensch,ein Mensch, derunter Elend und Hunger leidet, wird also als "Mensch auf der Straße" bezeichnet - eine elegante Lösung, nicht wahr? Sucht stets hinter jedem Euphemismus das Verbrechen, das sich dahinter verbirgt - im Einzelfall mag ich mich irren, aber im allgemeinen ist es so, dasshinter einemEuphemismusein Verbrechen steckt.
 
Wir leben inStädten, dieTürme, Einkaufszentren bauen und Immobiliengeschäfte betreiben ... aber einenTeil von sich selbstan den Rändern, an den Peripherien aufgeben. Wieweh tutes, wenn man hört, dassArmensiedlungenmarginalisiert werden oder - noch schlimmer -dem Erdboden gleich gemacht werden sollen! DieBildervonZwangsräumungen, von Bulldozern, die kleine Häuschen niedermachen, sind so grausamwie Kriegsbilder.Und das sieht man heutzutage.
 
Ihr wisst, dassin den Armenvierteln, wo viele von euchwohnen, Werte überleben, die in den Wohngegendender Neureichen längst vergessen sind. Die Siedlungensindmit einer reichenVolkskulturgesegnet. Der öffentliche Raumistnicht nur einTransitraum,sondern Erweiterungdes Heims,ein Ort, an dem manKontakte mit denNachbarnknüpft.Wie schön sind dieStädte, diedas krankmachendeMisstrauenhinter sich gelassen haben, die verschiedensten Menschen zusammenführen und ausdieser Integrationeinen neuenEntwicklungsfaktor machen. Wie schönsind dieStädte, die auch in ihrer architektonischen Gestaltung viel Raum lassen, in denen es möglich ist, Verbindungen zueinander aufzubauen, in Beziehung zu treten, die Anerkennung der Anderenvoranzubringen.Daher keine Marginalisierung und keineBeseitigung von Siedlungen: Die städtischeIntegration muss vorangebracht werden!Dieses Wort Integration muss ab sofort das Wort Beseitigung ersetzen! Aber auch jene Projekte, die scheinbar die Armensiedlungen verschönern, die Peripherienordentlicher gestalten sollen und die gesellschaftlichen Wundmale verdeckenstatt sie zu heilen, müssen ersetzt werden durch die Förderung einer echten, vom Respekt geprägten Integration!Häufig haben wir es hier mit einer Art architektonischenmakeup´s zu tun,richtig? Jedenfalls geht es in diese Richtung. Lasstuns dafür arbeiten, dassalle Familienein Zuhause und dass alleStadtvierteleine ausreichendeInfrastruktur haben (Abwasserkanäle, Strom, Gas, Asphalt) und natürlich:Schulen, KrankenhäuseroderErste-Hilfe-Zentren, Sportvereine undalles, was Verbindung schafft und zusammenführt, ebenso Zugang zu Gesundheit, Bildung und Sicherheit des Besitzes.
 
DrittensArbeit (trabajo). Es gibt keine schlimmerematerielle Armut- ich fühle mich dazu gedrängt, es noch einmal zu wiederholen - es gibt keine schlimmerematerielle Armut als die, sich das tägliche Brot nicht zu verdienen undderWürde der Arbeitberaubtzu sein. Jugendarbeitslosigkeit, informelle Beschäftigungen undfehlende Arbeitnehmerrechtesindnicht unvermeidlich, sieergeben sich aus einer zuvor getroffenen gesellschaftlichen Option, aus einem Wirtschaftssystem, das den Profit über den Menschen stellt, und wenn es um wirtschaftlichen Profit geht, sogar über Menschlichkeitbzw.über den Menschen. Hier sehen wir dieAuswirkungen einer Wegwerf-Kultur, dieden Menschenselbstals Konsumgut betrachtet, das benutzt und dannweggeworfenwerden kann.
 
Heute fügt man demPhänomen derAusbeutung und Unterdrückungeine neue Dimension hinzu, einen anschaulichen harten Gradmesser für das gesellschaftliche Unrecht:alle, die nichtintegriert werden können, dieAusgeschlossenensind"Überflüssige", sind Abfall. Das ist die Wegwerf-Kultur.Darüber möchte ich noch etwas mehr sagen, als ich hier aufgeschrieben habe, das mir jedoch gerade in den Sinn kommt. So etwas geschieht, wenn das Geld wie ein Gott im Zentrum eines Wirtschaftssystems steht, und nicht der Mensch, die menschliche Person.Ja, im Zentrum jedes gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Systems muss der Mensch stehen, Gottes Ebenbild, dazu geschaffen dem Universum einen Namen zu geben.Wenn der Mensch an die Seite gerückt und die Gottheit Geld an seine Stelle gesetzt wird, geschieht diese Umwertung aller Werte.
 
Undum das noch anschaulicher zu machen, erinnere ich an eineLehreetwa aus dem12. Jahrhundert.Einjüdischer Rabbierklärte seinenGläubigendie Geschichte desTurmbaus zu Babel. Er erzählte, um den Turm von Babelbauen zu können,musste man viel Müheaufwenden. Manmusste Ziegelmachen.UmZiegelsteine herzustellen, musste man Lehm bereiten, Stroh herbeiholen unddenLehmmit dem Stroh vermischen und kneten, dann die Masse inQuadrate schneiden, trocknen lassen, dann im Ofen brennen, und wenn sie gebrannt undabgekühlt waren, mussten sie hinaufgetragen werden, um den Turm weiter zu bauen.
 
Mitall dieser Arbeit war ein Ziegel sehr teuer geworden. Wenn also ein Ziegelstein herunterfiel, war das fast einenationale Tragödie. Wer den Ziegel hatte herunterfallen lassen, wurde schwer bestraft oder suspendiert oder ich weiß nicht, was noch mit ihm geschah. Aber wennein Arbeiter herunterfiel, passiertenichts. Mit dieser Geschichte erklärte ein Rabbi im 12. Jhdt. diese schrecklichen Dinge, die geschehen, wenn der Mensch im Dienste der Gottheit Geld steht.
 
Undim Hinblick auf das Wegwerfen, müssen wir auch aufmerksamer werden auf das, was in unserer Gesellschaft geschieht.Ich wiederhole hier, was ich bereits inEvangeliiGaudium gesagt habe. Heutzutage werden Kinderverworfen, denndie Geburtenrate invielen Ländernder Welt ist zurückgegangen; Kinderwerden verworfen, weil man keine Nahrungsmittel hat, bzw. vor der Geburtgetötet.Wegwerf-Kinder.
 
Die älteren Menschenwerden verworfen, weil sie zu nichts mehr nütze sind, weil sie nicht produzieren. WederKinder noch Alte sind produktiv, dann kann man sie mit mehr oder wenigerausgeklügelten Systemenlangsamsich selbst überlassen. Und weil man in der jetzigen Krisewiederein gewisses Gleichgewicht herstellen will, erleben wir einen dritten schmerzlichen Verwerfungsprozess: dasVerwerfen der Jugendlichen.Millionen junger Menschen - ich will keine exakte Zahl nennen, weil ich sie nicht genau kenne, und die, die ich gelesen habe, scheint mir übertrieben - aberMillionen von jungen Menschen werden aus der Arbeitswelt herausgeworfen, sindarbeitslos.
 
In den europäischen Ländern, und diese Statistikensind eindeutig, hier in Italien, sind etwas mehr als 40% derjungen Leute arbeitslos.Euch ist klar, was40%der Jugend bedeutet,eine ganze Generation, eine ganze Generationwird für null und nichtig erklärt, um das Gleichgewicht [der Bilanz] zu wahren.In einem anderen europäischenLand übersteigt die Zahl bereits 50%,im Süden dieses Landes gar 60%. Das sind eindeutige Zahlen, Überreste des Verwerfungsprozesses.Verwerfung vonKindern, Verwerfung von Alten, die nicht produktiv sind. Jetzt wird eine Generation von jungen Leuten geopfert, Verwerfung von jungen Leuten, um ein System ins Gleichgewicht zu bringen und zu erhalten, in dessenZentrum Gott Geld steht und nicht der Mensch.
 
Dieser Wegwerf-Kultur zum Trotz, dieser Kulturvon überflüssig gemachten Menschen zum Trotz haben so viele von euch, die für dieses System als überflüssig gelten, ihre eigene Arbeiterfundenmit all dem,was eigentlich nichts mehr herzugeben schien... Aber ihr habt es geschafft und schafft es immer noch mit eurer Handwerkskunst,die Gotteuch gegeben hat...mit euer Zielstrebigkeit, mit eurer Solidarität,mit eurerGemeinschaftsarbeit,mit eurer Solidarwirtschaft....Und lasst es mich euch so sagen: das ist nicht nur Arbeit, dasistPoesie.Danke.
 
Selbstverständlich haben alleArbeitnehmer, ob sie nun im formalen Systemder Lohnarbeit drin sind oder nicht, das Recht auf angemessene Entlohnung, soziale Sicherheit und Altersvorsorge. Hier sindMüllsammler, Müllverwerter, Straßenhändler, Schneider, Handwerker, Fischer, Bauern, Bauarbeiter, Bergleute, Arbeiteraus selbstgeführtenUnternehmen, Genossenschaftsangehörige aus unterschiedlichen Sparten und Arbeitende aus selbstorganisierten Dienststellen - sie alle sind aus dem Arbeitsrecht ausgeschlossen, ihnen verweigert man die Möglichkeit zu gewerkschaftlichem Zusammenschluss, sie haben keineausreichenden,festen Einkünfte. Heute möchte ich eurer Stimme meine Stimmehinzufügenund euch in eurem Einsatz unterstützen.
 
Bei diesem Treffen habt ihr auch überFrieden undÖkologie gesprochen. Das liegt in der Logik:Man kann kein Land besitzen, man kann kein Dach über dem Kopf haben, man kann keine Arbeit haben, wenn wirkeinen Frieden haben und wenn wir den Planeten zerstören. Diese wichtigen Themen müssen dieVölker und ihreBasisorganisationendringlichdiskutieren.Sie dürfen nichtallein von den politischenFührungskräften behandelt werden.AlleVölker der Erde, alle Männer undFrauen guten Willens, alle müssen wir zum Schutzdieser beidenkostbaren Gabenunsere Stimmen erheben, für Frieden und für die Natur, bzw. - wie Franz von Assisi sie nennt - für die Schwester Mutter Erde.
 
Kürzlichhabe ich gesagt, undich wiederhole das hier,wirstecken mitten imdritten Weltkrieg, allerdings in einem Krieg in Raten. Es gibtWirtschaftssysteme, die um überleben zu können, Krieg führenmüssen. Also produzieren und verkaufen sie Waffen. So werden die Bilanzen jener Wirtschaftssysteme saniert, die den Menschen zu Füßen des Götzen Geld opfern.Man denkt weder an diehungerndenKinderin den Flüchtlingslagern, noch an die Zwangsumsiedlungen, weder an die zerstörten Wohnungen,noch an die im Keim erstickten Menschenleben. Wie vielLeid! Wie viel Zerstörung! Wie viel Schmerz! Heute, liebe Brüder und Schwestern,steigtin allen Teilender Erde,in allen Völkern, in jedem Herzenundin den Sozialen Bewegungender Schreinach Frieden auf: Nie wieder Krieg!
 
Das Wirtschaftssystem, das sich um den Götzen Geld dreht,muss auch die Natur plündern, die Natur ausplündern, um die Hektik desKonsumsaufrecht erhalten zu können, von dem es lebt. Der Klimawandel, der Verlust biologischer Vielfalt, die Waldzerstörung zeigen bereitsihre verheerenden Auswirkungenin den großenNaturkatastrophen, diewir erleben. Und Ihr seid diejenigen, die am stärksten darunter zu leiden haben, die kleinen Leute, die an den Küsten in Hütten leben und die wirtschaftlich so verwundbar sind, dass sie bei einer Naturkatastrophe alles verlieren.
 
Brüder und Schwestern, die Schöpfung ist kein Eigentum, über das wir nach eigenem Gutdünken verfügen können. Und schon gar nicht ist sie das Privateigentum einiger weniger. Die Schöpfungist eine Gabe, ein Geschenk, ein wunderbaresGeschenk, das Gottuns gegeben hat, damit wir uns darum kümmernund esimmer mit Respektund Dankbarkeit zum Wohlealler nutzen.Ihr wisst vielleicht,dassich an einerEnzyklika überÖkologie arbeite: Seid dessen gewiss, dasseure Anliegendarin enthalten sein werden.Ich nutze diesen Moment, um euch zu danken für euren Brief, den mir dieMitglieder derVia Campesina, derFöderation der Cartoneros und viele andereGeschwisterdazu übergeben haben.
 
Wir sprechen überLandbesitz, Arbeit und Dach über dem Kopf ... wir sprechen über die Arbeit fürFrieden und die Bewahrungder Natur ...Aber warum schauen wir dann immer noch zu, wie menschenwürdige Arbeitbeseitigt,soviele Familien aus ihren Häusern vertrieben, campesinos ihrer Länder beraubt,Kriege geführt werden unddie Natur misshandelt wird?Weil man in diesem Systemden Menschen, die menschliche Person,aus der Mitte gerücktund sie durchetwas anderes ersetzt hat.Weil man dem Geld einengötzendienerischen Kult widmet. Weil man die Gleichgültigkeitglobalisierthat! Man hat die Gleichgültigkeit globalisiert nach dem Motto: Wasgeht mich das an, wie es anderen geht, wenn ich mich doch um mich selbst zu kümmern habe? Denndie Welt hat den Gottvergessen, derVater ist. Sie ist wieder eine Waise geworden, weil sie Gott beiseite geschoben hat.
 
Einige von euch haben gesagt:Dieses System ist nicht mehr zu ertragen.Wir müssenes ändern. Wir müssen die Würde des Menschenwieder ins Zentrum rückenund dann auf diesem Grund alternativegesellschaftlicheStrukturen errichten, die wir brauchen. Das müssen wir mitMut, aber auch mit Intelligenz betreiben. Hartnäckig, aber ohne Fanatismus. Leidenschaftlich, aberohne Gewalt.Und gemeinsam, die Konflikte im Blick, ohne uns in ihnenzu verfangen, immer darauf bedacht, die Spannungen zu lösen, um eine höhere Stufe vonEinheit, Friedenund Gerechtigkeitzu erreichen. Wir Christenhaben etwas sehr Schönes,eine Handlungsanleitung, ein revolutionäres Programm, könnte man sagen.Ich rate Euch dringend, es zu lesen. Lest die Seligpreisungenim Kapitel 5 desMatthäusevangeliums und im Kapitel6 des Lukasevangeliums,(vgl. Mt5, 3 und Lk6, 20) und lest denAbschnitt aus Kapitel 25des Matthäusevangeliums. Das habe ich auch denjungen Leuten inRio de Janeiro bereits gesagt,mit diesen beidenTexten habt ihr ein Aktionsprogramm.
 
Ichweiß, dassunter euchMenschen verschiedener Religionen, Funktionen, Ideen, Kulturen, Länder, Kontinente sind. Heutepraktiziert ihr alle hierdie Kulturder Begegnung, die so anders ist als Fremdenfeindlichkeit,Diskriminierung und Intoleranz, die wir so oft erleben. Unterden Ausgeschlossenen findet man dieseBegegnung der Kulturen, wo das Gemeinsame das je Besondere nicht zunichte macht. Deshalb mag ich das Bild desPolyeder so sehr, diegeometrische Figurmit vielen verschiedenenGesichtern.DasPolyederspiegeltdas Zusammenspielallerjeweiligen Besonderheiten, da siein ihm ihre Originalitätbewahren. Nichts wird aufgelöst, nichtsgeht verloren, nichtswirdbeherrscht, alles wird integriert, alles integriert. Heute geht es euchauchum dieSynthesezwischen demLokalen und dem Globalen. Ich weiß, dass ihr Tag für Tag in eurer nahen Umgebung, an konkreten Aufgaben, auf eurem Landgebiet, in eurem Stadtviertel, an euremArbeitsplatz an dieser Synthese arbeitet. Ich möchte euch dazu auch ermutigen, dass ihr weiter an dieser großen Perspektive arbeitet, damit unsere Träume hochfliegen und das Ganze umfassen.
 
Daherscheint mir der Vorschlag wichtig, den einige von euch mich haben wissen lassen, dass diese Bewegungen, die Erfahrungen von Solidarität, die von unten her, aus dem Untergrund des Planeten hervorwachsen, zusammen kommen,besser koordiniert werden und sich auch in Zukunft treffen können, wie ihr es indiesen Tagengetan habt.Achtung!DieBewegung instarre Strukturen einspannen, ist niemals gut. Deshalb sprach ich vom Treffen. Noch unpassender wäre es, wenn die einen die anderen schlucken, lenken oder beherrschen wollten.Freie Bewegungen entwickeln ihre eigeneDynamik, aber dennoch sollten wir versuchen,gemeinsam auf dem Weg zu sein. Wir sind in diesemRaum, deraltenSynodenaula. Jetzt gibt es eine neue Aula. Synodebedeutet genau das:"gemeinsam auf dem Wege sein". Möge dieser Ort ein Symbol für denProzess sein, den ihrbegonnenhabt undvoran bringen wollt.
 
 
 
Die Sozialen Bewegungen bringen zum Ausdruck, wiedringend unsere Demokratienverlebendigt werden müssen, weil sie oft vonunzähligen Faktorenentführt werden.Für die Gesellschaft ist eine Zukunft nur vorstellbar, wenn die Mehrheit der Bevölkerung eine aktive bestimmende Rolle mit spielt. Eine solch aktive Rolle gehtüber die logischenVerfahreneiner formalen Demokratieweit hinaus. Die Aussicht auf eineWelt mitdauerhaftem Friedenund Gerechtigkeitverlangt von uns, jeden paternalistischen Assistentialismus hinter uns zu lassen und neue Formen der Partizipation zu entwickeln, damit die sozialen Bewegungen aktiv mitwirken können. So könnte der moralische Energieschub, der aus der Eingliederung der Ausgeschlossenen in den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft entsteht, zu Regierungsstrukturen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene animieren.Und daskonstruktiv, ohneGroll,mit Liebe.
 
Von Herzen begleite ich euchauf diesem Weg. Aus tiefstem Herzen lasst uns gemeinsam sagen: Keine Familieohne Wohnung,keinBauer ohne Land, kein Arbeitnehmerohne Rechte, kein Mensch ohne die Würde, diedie Arbeit bedeutet.
 
Liebe Schwestern und Brüder: Setzt euren Kampf fort. Das tut uns allen gut. Er ist ein Segenfür die Menschheit.Zur Erinnerung lasse ich euch ein Geschenk mit meinem Segen: Rosenkränze, die Handwerker, Müllsammler undArbeiter aus der Solidarwirtschaftin Lateinamerika hergestellt haben.
 
In dieser Begleitung bete ichfür euch, bete ichmit euch und bitte Gott, unseren Vater, euchzu begleiten und zu segnen, damit ihr von seiner Liebe erfüllt werdet und er euch auf dem Weg begleite, indem er euch reichlich jene Kraft gebe, die uns aufrecht erhält, diese Kraft ist dieHoffnung, die Hoffnung, die nicht trügt. Danke!
 
(Übersetzung aus dem Spanischen: Norbert Arntz, ITP, Münster)
 
 
https://www.alainet.org/de/articulo/165705

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